Familie & Schule, Sport

Flanderns Schönste

Es ist der erste Sonntag der Osterferien; der 6. April 2014, circa 16 Uhr 30. Ich fahre Rad in Gent, einer touristischen und lebendigen Stadt in Ostflandern, aber ich bin fast allein auf dem Weg. Einige türkische Jugendliche spielen Fußball in einem Park und eine Gruppe von etwa 6 japanischen Touristen streift in den Straßen umher. Das Wetter ist nicht sehr schön aber es regnet nicht und es fühlt sich nicht ungewöhnlich kalt, doch gibt es kein Mensch in der Innenstadt. Ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass irgendetwas nicht stimmt.


(Red.) Dies ist ein Beitrag aus unserer Serie: “Sprachschüler schreiben für Belgieninfo”. Wir haben absichtlich die Texte nicht korrigiert, um die Verfasser zu ermutigen, in ihren Bemühungen für die deutsche Sprache nicht nachzulassen. Zugleich beglückwünschen wir sie für ihre Kenntnisse und Fähigkeiten. Weiter so!


Etwa fünfzehn Minuten später komme ich zu Hause an und sehe meine Hausgenossen wie gebannt auf den Fernsehschirm starren. Mein Blick erhascht gerade noch einen Radsportler, den die Arme in die Höhe reckt. Es ist Fabian Cancellara. Der Schweizer hat soeben, zum dritten Mal, die Flandern-Rundfahrt gewonnen.Und während die Männer auf dem Sofa lauthals fluchen, fällt bei mir endlich der Groschen.Ich hatte die Flandern-Rundfahrt völlig vergessen. Der Radsport lebt im flämischen Wohnzimmer, offensichtlich auch in meinem, und lässt die Straßen leer zurück.

Am nächsten Tag erzählt mein Freund Tom, ein Radsportfanatiker, mir, dass mehr als 2 Millionen auf die Rundfahrt einstellt hätten und 1.729.808 Menschen Zeuge des Spurts Cancellarasgewesen seien. Er selbst hat das ganze Spektakel mit einigen Freunden in einer Kneipe verfolgt. Flämischer besteht fast nicht. Indem er begeistert über Flanderns Schönste redet, frage ich mich, wie dieser Sport so eine starke Anziehungskraft auf Flandern ausüben kann, denn nicht nur die Unzahl von Zuschauern, sondern auch die Zahl von Randaktivitäten, Spin-offs und Nebenproduktenist phänomenal (für ein Radrennen).

1999 schrieb Walter van den Broeck das Theaterstück ‘De Ronde van Vlaanderen’. Dieses Stück wird bis heute noch aufgeführt.
2011 sendete der Fernsehsender Één die neunteiligenSerie ‘De Ronde’ (von Woestijnvis). Die fiktive Fernsehserie spielt sich am Tage der Flandern-Rundfahrt ab und mischt die Realität (Fragmente aus dem Radrennen) und die Fiktion.
Und so gibt es noch eine Menge Beispiele: Bücher, DVD’s, Ausstellungen, Museen… über diesen Thema.

Auch gastronomische (Rondebier, Rondebrot…) und touristische Nebenprodukte (eine Fahrradroute) schlagen beim Publikum an.

Der erfolgreichste Spin-off ist jedoch die Ronde van Vlaanderen Cyclo-Rundfahrt. Am Tag vor dem echten Klassiker oder dem Profi-rennen organisiert Golazo eine angepasste Rundfahrt für Radwanderer. Diese Sportveranstaltung drohte aus allen Nähten zu platzen und musste aus diesem Grund die Teilnehmerzahl begrenzen; 2014 konnten sich “nur” 16.000 Radfahrer für die Jedermann-Version einschreiben.

Aber warum will jeder Radwanderer diesen Radrennen zu Ende fahren? Warum sitzen 2 Millionen Flamen gebannt vor dem Fernsehapparat?

“Kulturerbe! Folklore! Heroik!”, erklärt mein Freund Tom mir.

Der Klassiker ‘die Flandern-Rundfahrt aka Vlaanderens Mooiste (das Schönste von Flandern)’ ist vielleicht Belgiens populärstes Eintagesrennen. Er wurde 1913 vom Journalist Karel Van Wijnendaele der Sportzeitschrift Sportwereldinitiiert. Die Rundfahrt ist eine “Herkulesarbeit” “dank” der zahlreichen Böschungen (hellingen auf niederländisch) und des Kopfsteinpflasters (Kasseien) in den Flämischen Ardennen.

Die Kasseien fallen regelmäßig mit den steilen Anstiegen zusammen. Die berühmtesten sind der Oude Kwaremont, der Paterberg, der Koppenberg und die Mauer von Geraardsbergen mit Steigungen von bis zu 20%.
Für die Zuschauer ist die Rundfahrt ein großes Volksfest und oft auch eine Familienveranstaltung. Für die Sportler bedeutet sie “sich abrackern und sterben”.

Während er mir im Internet (auf Sporza) eine Zusammenfassung des Klassikers zeigt, erzählt Tom weiter, dass das doch ganz heroisch sei!Der Sieger komme völlig erschöpft ans Ziel. Und die andere Rennfahrer natürlich auch… Es sei wirklich eine Riesenanstrengung. Aus diesem Anlass willen viele Radwanderer das selbst auch mal erleben. Die Rundfahrt sei so nicht nur erkennbar wenn sie am nächsten Tag fernsehen, sie können sondern auch mit ihrer Leistung prahlen.
Flanderns Schönste Sache (gleichwie Fußball) daneben den Patriotismus und den Gemeinschaftsgefühl an. Die Rundfahrt spiele sich ab in Flandern, fast in unserem Garten, das stimuliere doch die Vaterlandsliebe?!

Ich muss Tom recht geben. Selbst bin ich nicht wirklich eine große Radrennliebhaberin, aber ich sehe den Charme und die Anziehungskraft der Flandern-Rundfahrt. Vielleicht muss ich nächstes Jahr auch auf der Rundfahrt einstellen und Zuschauer Nummer 1.729.809 werden.

Tom zeigt mir die Übersicht des Sieges Cancellaras auf Sporza. “Ganz heroisch, nicht wahr?!”

Autor: Ily Hollebeke

 

Quelle:

http://de.wikipedia.org/wiki/Flandern-Rundfahrt
http://nl.wikipedia.org/wiki/De_Ronde
http://www.tijd.be/dossier/mobiliteit/De_Ronde_van_Vlaanderen_is_een_sterk_merk_maar_een_zwakke_business.9322728-2336.art
www.sporza.be

One Comment

  1. Doris Briechle

    Das ist ein sehr schöner Artikel über dieses wirklich sehenswerte Event.
    Wer den Radsport mag und vielleicht auch selbst fährt, versteht welche Faszination gerade dieses Rennen hat.
    Außerdem ist das Deutsch von Ily Hollebeke sehr gut – Deutsch ist ja wirklich keine einfache Sprache.

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